Überleben

Märchen für die Preisverleihung Förderpreis Kulturregion Landkreis Gießen 2023

Mahnung in die Zukunft
Ein Blick in die Zukunft.

Wir sind heute in einer festlichen Preisverleihung, und daher endet meine Geschichte gut.
Ich habe allerdings auch eine andere Version mit einem ganz anderen Verlauf geschrieben, die ganz anders, nicht gut endet. Ihr könnt euch die andere Version leicht selber denken.
Lothar Schreyeck

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ÜBERLEBEN

Als nach 25jährigem Tiefschlaf der Kulturpolitische Arbeitskreis IM-PULS das Gemeinschaftsgefühl und die Bereitschaft zum Engagement in Daubringen wiedererweckte, blühte ein neuer Sozialer Ort im Kulturcafé Daubringen und mitten in den Herzen der Menschen auf.

Im Wohnzimmer krabbelten fortan die Kleinsten, während ihre aufmerksamen Mütter miteinander über die tollen Kinder und über Probleme der Mutterschaft sprachen, den Ältesten schmeckte Kaffee aus Bioanbau und selbstgebackener Kuchen, und die eine Seniorin wagte sogar, zum ersten Mal in ihrem Leben einen Cappuccino zu trinken, wenn ihre Freundin das ebenfalls tat. Man traf sich auf der Bühne des Veranstaltungsraums zum gemeinsamen Musizieren und am ovalen Tisch zum geselligen Stricken und zum Spielen sowie am Stehtisch zum redseligen Biertrinken. Ja manche dachten im Wohnzimmer gar über sich selber nach und schrieben Memoiren über das eigene mit Glück und Leid prall gefüllte Leben, und lasen mutig und selbstbewusst ihre Texte vor gespannt lauschenden Gästen vor.

Das Wohnzimmer wurde als Ort für Konzerte bei lokalen Künstlern und solchen aus der ganzen Welt immer beliebter, was darin gipfelte, dass bereits im achten Jahr des Bestehens den Auftrittsanfragen von Peter Herrmann, Jo Bonica und Taylor Swift aus Terminmangel zum größten Bedauern der Programm-AG Absagen erteilt werden mussten.

So war das Wohnzimmer hochangesehen in Stadt und Land und Lumdatal und die Aktiven erhielten diverse Anerkennungen und Preise.

Jedoch schlichen sich mit der Zeit schwerwiegende Probleme ein, die aus üblichen und natürlichen Veränderungen resultierten, und die bei Gästen und Aktiven große Schrecken hervorriefen, die sich aber wie durch ein Wunder immer wieder wie von alleine lösten.

Zunächst wechselten sämtliche ehrenamtlichen Kneipenwirte in eine andere Lokalitat. Sie folgten dem Koch mit dem Bart, der die wunderbarsten Döner bereiten konnte und dies zukünftig an einem anderen Ort tun sollte. Nach einer kurzen Zeit des Jammers gestaltete eine Gruppe von jungen Menschen die Kultkneipe mit neuem Schwung und anderem musikalischen Schwerpunkt.

Als die Memoiren zuende geschrieben waren und eine erste der Schreibenden verstorben war, entstand anlässlich des Verfassens eines Trauergedichts eine neue Gruppe, die inbrünstig Gedichte verfasste und gelegentliche Poetry Slams organisierte.

Einzelne Musizierende der Jam-Session wandten sich immer mehr der familiären Hausmusik zu und suchten das Glück im trauten Heim. Da raufte sich eine kleine Restgruppe zu einer Punkband zusammen und übte derart regelmäßig und laut, dass so manches Mal die von schlafsuchenden Nachbarn alarmierte Polizei vermitteln musste.

Mehr im Verborgenen spielte sich das Drama um den Zauberer der Zuschussanträge ab, der eines Tages unvermittelt (so erschien es den meisten, obwohl dieser Schritt seit viereinhalb Jahren angekündigt war) seinen Zauberstab abgab. Aus dem unhörbaren allgemeinen Wehklagen erwuchs wundersamerweise den Zauberlehrlingen eine Kraft, die mit großem Erfolg neue, dem Zauberer verborgen gebliebene, unbekannte Wege gehen konnte.

All diese glücklichen Wendungen zum Guten waren möglich, weil beim IM-PULS ein unumstößliches Prinzip herrschte, das auch heute noch lautet: unser Konzept sind die Vielfalt und die Solidarität. Die Ehrenamtlichen machen genau das, was sie gerne tun und was ihnen Spaß macht, was sie machen ist gemeinsames Tun und sie machen es nicht, weil es als Dienstleistung eingefordert wird.

So freuten sich viele Daubringer und Staufenberger lange Zeit.

Doch nach genau 12 Jahren passierte das Undenkbare:

Das Ende der mietfreien Nutzung der Räumlickeit mündete in unbezahlbare Mietforderungen seitens des Hausbesitzers. Der Rotkreuzverein brauchte seine ganzen Kräfte und Geldmittel für die Opfer von Sturm- und Flutereignissen.
Die Politiker der um Hilfe angefragten Stadt waren hin und hergerissen zwischen scheinbaren Notwendigkeiten und hehren Idealen. Am Ende der uferlosen politischen Diskussionen blieb kein Geld für den Kulturverein, da unaufschiebbare Entscheidungen zugunsten anderer wichtiger Aufgaben getroffen werden mussten.

Ein Schock flutete die Verantwortlichen des IM-PULS, selbst die längst zu Zauberern erwachsenen Zauberlehrlinge wussten keinen Ausweg. Die Kultkneipe lud zum letzten Getränk, in den Gedichten der Lyrikgruppe flossen Abschiedstränen, beim letzten Sonntagscafé wurde unter lauter Punkmusik Streuselkuchen wie bei einem Beerdigungscafé gereicht .

Und wieder geschah Unerwartetes:

Dem Geschäftsführer des Rotkreuzvereins als Hausbesitzer erschienen im Traum ein kleines Kind und eine ältere Frau, sitzend vor der geschlossenen Tür des Wohnzimmers, die ihn lange mit großen Augen ansahen. Sie sagten nichts, doch war ihnen der vollkommene Schmerz deutlich anzusehen und der Geschäftsführer spürte die Trauer der beiden bis ins Mark. Schweißgebadet wachte er auf und grübelte noch lange.

In derselben Nacht erchienen dem Bürgermeister von Staufenberg ebenfalls zwei Personen im Traum. Ein Mann, der wie ein Handwerker gekleidet war und Lautsprecherkabel in der Hand hielt, und eine Frau, die gerade ein sehr kunstvolles Bild malte, auf dem das Wohnzimmer in nie gekannter Schönheit farbenprächtig abgebildet war, saßen auf einer roten Hollywoodschaukel und schauten sich gegenseitig lange mit niedergeschlagenen Augen an, um dann ihre Blicke hoffnungsvoll in Richtung Bürgermeister zu wenden, der vor dem verschlossenen Rathauseingang stand. Ganz ergriffen wachte der Bürgermeister auf und wusste, was zu tun war.

Zwei Tage später machten der Geschäftsführer des Rotkreuzvereins und der Bürgermeister der Stadt den Aktiven im Wohnzimmer einen Vorschlag, der den Puls des Vereins wieder schlagen ließ: dank einer niedrigeren Miete und eines ansehnlichen städtischen Beitrags wurde die finanzielle Situation für den IM-PULS zu einer stemmbaren Belastung.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

 

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